Im April 1971 reichte der damalige Thurgauer Kantonsrat Rolf Weber eine von ihm formulierte Motion beim Regierungsrat des Kantons ein. In der Motion forderte Weber den Regierungsrat dazu auf, dem Grossen Rat einen Entwurf zu einer Totalrevision des Gesetzes betreffend die Errichtung einer kantonalen Zwangsarbeitsanstalt vom 13. Dezember 1849 zu unterbreiten.

Begründet wurde die Motion dahingehend, dass sich seit Erlass des Gesetzes im Jahr 1849 die rechtlichen Grundlagen in Bezug auf den Zweck der Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain (seit 1943 Arbeitserziehungsanstalt genannt) erheblich geändert hätten. Ergänzend wies er darauf hin, dass auch die sozialpolitischen Entwicklungen der Zeit sowie die Veränderungen in der Anstalt Kalchrain selbst während des beinahe 125-jährigen Bestehens des Kalchrain-Gesetzes eine Revision verlangen würden.

 

Zum Verfasser der Motion

Nach seinem Studium an der Universität Bern (1942-1948) arbeitete Dr. Rolf Weber (1923-2000) im Kanton Thurgau als Rechtsanwalt. Daneben war er als Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (SP) lange Jahre in der kantonalen sowie eidgenössischen Politik tätig. 1953 wurde er in den Kantonsrat (Grossen Rat) des Kantons Thurgau gewählt (1953-1980), von 1971-1987 vertrat er seinen Kanton zudem als Mitglied des Nationalrates. Weber befasste sich in seiner Karriere regelmässig mit Verfassungsfragen. Im Kantonsrat engagierte er sich insbesondere für das Fürsorgesetz des Kantons Thurgau (1966) sowie für die thurgauische Strafprozessordnung (1971).

 

Forschungsfragen

Als historische Quelle ermöglicht die Motion Weber beispielsweise einen Einblick in die politischen Prozesse innerhalb der Regierung des Kantons Thurgau. Sie zeigt auf, durch welche Art von politischem Engagement die administrativen Versorgungen zunächst ihre Legitimation einbüssten, bis sie letztlich vollständig abgeschafft wurden. In diesem Zusammenhang kommt eine Vielzahl von Fragen auf: Welche Forderungen stellten die Befürworter der Motion an die Regierung? Wie gingen die beiden Räte (Kantonsrat und Regierungsrat) bei der Erledigung der Motion vor? Welche Argumente sprachen für die Revision des Kalchrain-Gesetzes von 1849? Wie argumentierten die Gegner der Revision? Einige dieser Fragen lassen sich zum Beispiel durch die Konsultation der Regierungsratsakten bezüglich der Motion Weber beantworten.

Weiter wirft die Quelle wichtige Fragen hinsichtlich der politischen und sozialen Entwicklungen auf, die schliesslich zur Aufhebung der Gesetze betreffend die administrativen Versorgungen führten. So kann etwa untersucht werden, ob bereits zu einem früheren Zeitpunkt kritische Stimmen gegenüber dem Gesetz von 1849 oder auch gegenüber der Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain laut wurden. Auch lässt sich fragen, weshalb das Thurgauer Gesetz – im Gegensatz zu verschiedenen Gesetzen anderer Kantone – seit 1849 keiner Revision unterzogen wurde (Ausnahme bildet die Umbenennung der Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain in Arbeitserziehungsanstalt 1943).

Neben einer Reihe weiterer Einflüsse hatte die Motion von Rolf Weber eine bedeutsame Rolle im Reformprozess rund um das Kalchrain-Gesetz von 1849. So erliess der Regierungsrat am 5. Juli 1976 die Verordnung über den Vollzug freiheitsentziehender Strafen und Massnahmen in der Anstalt Kalchrain, im Kantonalgefängnis und in den Bezirksgefängnissen. Durch diese Verordnung verlor die Praxis der Internierung aufgrund eines «liederlichen», «arbeitsscheuen» oder «ausschweifenden» Lebenswandels ihre rechtliche Grundlage. Somit schaffte der Kanton Thurgau die nicht medizinisch begründeten administrativen Versorgungen – während die administrativen Versorgungen in psychiatrische Kliniken und Trinkerheilanstalten weiterhin existierten – im Jahr 1976 ab, fünf Jahre vor der gesamtschweizerischen Abschaffung 1981.

 

N. Gönitzer

 

Angaben zur Quelle

Weber, Rolf: Motion betreffend die Totalrevision des Kalchrain-Gesetzes von 1849 an den Regierungsrat des Kantons Thurgau, datiert auf den 7. Januar 1971.

Signatur: Staatsarchiv Thurgau (StATG): 2’30’245-B, MO 18.