Der strafende Sozialstaat
Die Geschichte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen steht für ein Paradox in der Entwicklung des modernen Heim- und Anstaltswesens. Obwohl Erziehungsheime und -anstalten beanspruchten, ihre Zöglinge in die Gesellschaft zu integrieren, waren Missbräuche und Misshandlungen weit verbreitet und machten das pädagogische Anliegen oft zunichte.
Um dieses Paradox zu verstehen, ordnet das folgende working paper die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in die Geschichte des schweizerischen Sozialstaats ein. Zwangsmassnahmen bildeten erstenseinen strafenden Residualbereich des Sozialstaats, der nicht mit Geldleistungen, sondern mit Diskriminierungen, entwürdigenden Praktiken und physischer Gewalt operierte. Zweitens bildeten Heime, Anstalten und Pflegefamilien ein zwangsbasiertes Erziehungssystem für jene Personen, für die sich die traditionellen Bildungseinrichtungen nicht mehr zuständig sahen, weil diese mit ihren pädagogischen Ansätzen an ihre Grenzen stiessen. Drittens sind fürsorgerische Zwangsmassnahmen – indem sie Familiennormen gesellschaftliche Achtung verschafften – auch ein Teil der Geschichte der Familie und unterstreichen die Bedeutung der Institution Familie für die Reproduktion gesellschaftlicher Normen in der Moderne.
Der Artikel gibt die persönlichen Ansichten des Autors wieder. Eine überarbeitete Fassung dieses Beitrags wird veröffentlicht in der «traverse. Zeitschrift für Geschichte», Heft 1/2018.
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Lengwiler, Martin: «Der strafende Sozialstaat. Konzeptuelle Überlegungen zur Geschichte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen», Serie Working Papers, Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen, November 2017.