The IEC concluded its activity in 2019.
The website will not be further updated.
 
 

Bellechasse. Unterdrückte Stimmen – administrative Versorgungen in Freiburg

28 May - 02 June 2019
 
Le pavillon d'exposition sur la place de la gare à Fribourg
La lecture des lettres des personnes internées par des comédiens
Commentaires entre les extraits des lettres

Am 28. Mai 2019 lasen im Nouveau Monde eine Schauspielerin und ein Schauspieler aus historischen Dokumenten von Personen, die in Bellechasse (FR) administrativ versorgt gewesen waren. Die Veranstaltung fand in Kooperation mit der Société d’Histoire du Canton de Fribourg und dem Deutschen geschichtsforschenden Verein des Kantons Freiburg statt.

 

Briefe aus Bellechasse

In den Anstalten von Bellechasse im Kanton Freiburg waren Frauen und Männer aus verschiedenen Kantonen administrativ interniert. Diese Anstalt war besonders wichtig für die Arbeit der UEK, ist doch ein umfangreicher Quellenbestand aus Bellechasse im Staatsarchiv Freiburg aufbewahrt. Die Forscherinnen und Forscher stiessen im Archiv auf 6750 Personendossiers aus dem Zeitraum von 1919 bis 1981. Darin fanden sie nebst administrativen Dokumenten auch viele von den Internierten verfasste Briefe. Diese Zeugnisse erlauben es, den Standpunkt der Betroffenen einer administrativen Versorgung und ihre Haltung dazu zu erforschen. Wie äusserten sich die Internierten über den Entscheid, dass sie administrativ versorgt wurden? Wie erlebten sie die Versorgung in der Anstalt? Die Ergebnisse dieser Fragen sind im Band 4 der UEK-Publikationen nachzulesen.

 

Vortrag und szenische Lesung

Die Geschichten der betroffenen Personen, die durch diese Briefe überliefert sind, standen im Zentrum der Veranstaltung im Nouveau Monde. Anne-Françoise Praz, Historikerin und UEK-Vizepräsidentin, konzipierte die Lesung inhaltlich und führte einfühlsam in die Themenblöcke Schock der Ankunft und Lebensbedingungen in Bellechasse, Zensur und zerstörte Beziehungen sowie Reaktionen, Anklagen und Strategien der Betroffenen ein. Rund 150 Besucherinnen und Besucher lauschten der Schauspielerin Anne Jenny und dem Schauspieler Samuel Braun. Sie trugen auf Deutsch und auf Französisch Auszüge aus Briefen und Autobiographien vor.

 

Zensierte Briefe von administrativ Versorgten

Dass überhaupt Briefe in den Archivdossiers administrativ versorgter Personen zu finden sind, bedeutet, dass die Anstaltsdirektion sie zurückbehielt, anstatt sie zu verschicken. Die Direktion kontrollierte und zensierte also die Briefpost von und nach Bellechasse und konfiszierte Briefe, in denen beispielsweise die Schreibenden die harten Lebensbedingungen in den Anstalten von Bellechasse kritisierten. Eine Internierte schrieb im Jahr 1949 an das Gemeindesekretariat: «[…] Hier habe ich den ganzen Tage kalt in den Zellen […] ich habe immer Schmerzen in der Nacht, immer Schreie, ich kann auch nicht gut schlafen, ich habe keine rechte Ruh, ich gehöre ins Spital […].» Somit war es den Internierten praktisch unmöglich, Missstände innerhalb der Anstalt nach Aussen zu tragen.

Unter den archivierten Dokumenten befinden sich aber auch Liebes- und Freundschaftsbriefe an Angehörige und Freunde. Kurz vor Weihnachten 1941 schrieb eine administrativ Versorgte ihrem Freund einen liebevollen Brief mit frohen Festtagswünschen und legte als Geschenk ein selbstbesticktes Stofftaschentuch bei. Beides wurde von der Direktion konfisziert und im Personendossier der Frau aufbewahrt. Die romantischen Worte und das Weihnachtsgeschenk erreichten den Mann nie.

Für die administrativ Versorgten hingegen wären die Korrespondenzen ein wichtiges Mittel gewesen, um persönliche Beziehungen zur Aussenwelt aufrechtzuerhalten. Indem die Direktion solche freundschaftlichen Briefe zurückbehielt, nahm sie Einfluss auf die Beziehungen der internierten Männer und Frauen und hatte durch den Unterbruch der Kommunikation ein einschneidendes Machtmittel zur Hand. Auch die Isolation der Internierten durch die Zensur kommt in einigen Briefen zum Ausdruck: «Quelle surprise d’apprendre que tu n’as pas reçu ma lettre du 25 sept. […] je ne savais pas qu’en disant du mal de la maison cette lettre ne partait pas. Je l’ai su aujourd’hui seulement. Chaque jour, j’ai attendu ta réponse. […] Heureusement que tu as écris, tu vois que je ne peux écrire qu’une fois par mois, et je comptais sur toi, j’attendais en pleurant ta réponse, chaque jour! […]» Doch auch dieser Brief landete im Personendossier und gelangte nicht zur Adressatin, der Schwester der versorgten Frau.

 

Keine passiven Opfer

Diese Quellenbeispiele machen deutlich, welche Ohnmacht die administrativ Versorgten in den Anstalten empfunden haben mussten. Die Dokumente zeigen aber auch, dass die Internierten keineswegs einfach passive Opfer waren. Zahlreiche Briefe sind an den Anstaltsdirektor oder an übergeordnete Behörden adressiert. Die internierten Personen erklären darin beispielsweise, dass sie sich bisher in der Anstalt gut betragen hätten: «L’internement à Bellechasse m’a été salutaire, j’ai eu le temps à réfléchir sur mon passé et sur mon avenir. Je me suis toujours dévouée par mon travail et ma conduite a été irréprochable.» Die Argumentation, dass man allen Erwartungen entgegenkomme, war eine Strategie, um bessere Lebensbedingungen zu fordern oder eine frühzeitige Entlassung zu erreichen. In anderen Briefen äusserten die Internierten auch die Ungerechtigkeit, die sie gegenüber der administrativen Versorgung empfanden: «[…] Vous admettrez vous-même, Monsieur le Directeur, qu’il est pour le moins logique que je connaisse au moins le motif de mon internement, contre lequel je proteste au nom de la plus élémentaire justice.»

Auf diese Weise trug die öffentliche Veranstaltung die Stimmen der in Bellechasse administrativ versorgten Männer und Frauen, die jahrzehntelang in den Archiven verborgen waren, an ein breites Publikum und machte ihre Geschichten sicht- und hörbar. 

 

Gemeinsame Führung mit der Gruppe «Geschichte Erforschen für die Zukunft der Kinder» - ATD Vierte Welt

Am 1. Juni 2019 fand eine gemeinsame Führung mit der Gruppe «Geschichte erforschen für die Zukunft der Kinder» der Bewegung ATD Vierte Welt im Ausstellungspavillon statt.

Broschüre ATD Vierte Welt

 

Medienecho zur Station Freiburg

La liberté (24.05.2019): Les lettres de la souffrance

Radio Fribourg (18.05.2019): Les internements administratifs

Regionaljournal Bern Freiburg Wallis (28.05.2019): Die unterdrückten Stimmen von Bellechasse

RTS 1 (31.05.2019): L'invitée du 12h30 - Anne-Françoise Praz étudie les internements administratifs

Freiburger Nachrichten (29.05.2019): Weggesperrt ohne Gerichtsbeschluss

La Broye (13.06.2019): «Une pomme me ferait plaisir, on n'en an pas à Bellechasse»

 
< previous entry
21 May - 26 May 2019
Lausanne

L’exposition a fait étape durant une semaine à Lausanne sur la place de la Riponne.

La Cinémathèque suisse a projeté le 23 mai 2019 le film d’Alain Tanner et de Guy Ackermann intitulé «Les administratifs et l’article 42», réalisé en 1970. La projection a été suivie d’une discussion.

Learn more
^