Der Autor war von 1936 bis 1938 in der Schweiz in den Strafanstalten Thorberg BE sowie Witzwil BE inhaftiert. Der frühere Justizbeamte war ein wegen Unterschlagung von Staatsgeldern im Betrag von 16'000 Franken gerichtlich verurteilter Insasse, doch betreffen die hier wiedergegebenen Aspekte seiner Schilderungen auch die Lebensbedingungen der Administrativhäftlinge in Witzwil.

Ernst Steck schildert unter anderem die im Vergleich etwa zu Bellechasse reichhaltigere Verpflegung, die effiziente und gewinnbringende Organisation der Zwangsarbeit durch den ersten Direktor Otto Kellerhals, die dessen Sohn und Nachfolger übernahm, sowie die ebenfalls brutalen Disziplinarstrafen im Betrieb der Strafanstalt Witzwil, insbesondere den so genannten «Wickel».

 

 

Transkript

 

Wenn es auch Gefangene gibt, die nie zufriedengestellt werden können, so muss die Verpflegung von Witzwil doch als gut, bekömmlich und reichlich, vor allem aber als sehr abwechslungsreich und äusserst sauber bezeichnet werden.

(S.269)

Die Verpflegung besteht morgens aus Kaffee und Kartoffeln, mittags aus Suppe, Kartoffeln und Gemüse, die je nach Jahreszeit äusserst abwechslungsreich und gut zubereitet werden. Zwei Mal per Woche, Donnerstags und Sonntags, gibt es Rindfleisch, oft unter Zulage eines Stückes Speck, oft eine Rauchwurst. Montags regelmässig Makkaroni und Salat, während zum Nachtessen stets eine dicke Gemüse- oder Kartoffelsuppe mit Brot verabfolgt wird. Mittwoch und Samstag Abend erhält jeder Gefangene drei Äpfel oder Birnen, in den entsprechenden Jahreszeiten Kirschen oder Beeren und Sonntag abends eine Ration Käse. Die Tagesration Brot ist pro Mann auf achthundert Gramm bemessen.

(S.268)

Jeder Gefangene, dessen Verhalten zu keinen Klagen Anlass gibt, erhält alle zehn Tage seinen Zahltag, der aus einer Ration Käse, zweimal pro Monat Magerkäse, einmal Fettkäse, oder auf Wunsch an Stelle von Käse aus einer kleinen Tafel Schokolade oder einem Stück Kautabak besteht.

(S.269)

[Es] bilden die vier- bis fünfhundert Gefangenen mit den fünfzig Aufsehern eine ganz ungeheure Arbeitskraft, die unter der zielbewussten und energischen Leitung von Vater Kellerhals aus Witzwil, aus Moor und Schlamm, aus ufer- und weglosem Sumpf, auf dem nachts die Irrlichter tanzten, das machten, was es heute ist, einen kräftigen, fruchtbaren Gutsbetrieb, eine Arbeitskraft, die aus einer wertlosen, mit trüben Wassern und stinkendem Modergeruch des Sumpfes und übelriechenden Nebelschwaden bedeckten Einöde vollwertiges Kulturland, Millionenwerte geschaffen hat.

(S.270)

In die Hunderttausende gehen die Überschüsse, die im Laufe der Jahre an den bernischen Staat abgeliefert werden konnten. In Abteilungen von sechs bis zwölf Mann arbeiten die Gefangenen unter der Leitung eines Aufsehers und fünf Oberaufseher sind dafür verantwortlich, dass die einzelnen Abteilungen das ihnen zugemessen Tagespensum richtig erfüllen.

(S.271)

In der Käserei wird die Milch verarbeitet, in der Schreinerei und Wagnerei, in der Schmiede, in der Spenglerei werden die nötigen Geräte, Fahrzeuge, Möbel hergestellt, die Reparaturen besorgt, in der Schneiderei- und Schuhmacherwerkstatt verfertigen Gefangene Zivil- und Sträflingskleider und in der Korberei werden die ungeheuren Mengen der in einem solchen Betriebe benötigten Korbwaren hergestellt. [... Hinzu kommen] die maschinell betriebene Wäscherei, die Küche mit ihrer modernen Einrichtung, in der neunzehn Gefangene ausser den die Aufsicht ausübenden Berufsköchen beschäftigt werden, die Bäckerei, die täglich sechshundert Kilogramm Brot liefern muss [...]. In einer grossen Speditionsabteilung werden Gemüse, Früchte, Milchprodukte, kurz alles, was in Witzwil produziert wird, zum Versand vorbereitet, seien es nun Detaillieferungen an Private oder seien es die tonnen- und bahnwagenweisen Lieferungen der Landeserzeugnisse an Grossabnehmer.

(S.271f.)

Vater Kellerhals, der gewiegte Landwirt und bewährte Praktiker [...] kam auf die Idee, dem Neuland Witzwils durch Verwendung des stadtbernischen Kehrichts bakterienreichen Dünger zuzuführen. Nach den anfänglichen Misserfolgen – der Kehricht muss mindestens ein Jahr lang jedem Wetter ausgesetzt verrotten und faulen [...] – bewiesen stets reicher werdende Ernten die Richtigkeit und die Zweckmässigkeit der angestellten Versuche. So wird nun seit vielen, vielen Jahren der gesamte Kehricht Berns täglich in vier bis sechs speziell konstruierten Eisenbahnwaggons nach Witzwil überführt, wo regelmässig fünfzehn Mann gleichzeitig mit dem Ausladen die Müllmassen durchsuchen und sortieren: Eisen, Knochen, Lumpen, Papier, ja, gelegentlich Wertgegenstände. werden ausgeschieden und verwertet, Holz und brennbare Stoffe überhaupt der Heizung zugeführt, während der eigentliche Müll, der aus Staub, Asche, Gemüseabfällen und den vielen Kleinigkeiten besteht, die in einem städtischen Haushalt in den Kehrichteimer wandern, in dammähnlichen Haufen aufgestapelt und bis zu der im kommenden Jahr erfolgenden Verwendung als Dünger deponiert wird.

(S.272f.)

Obschon Dr. h.c. Otto Kellerhals heute nicht mehr als Direktor im Amte steht, kennt er heute noch jeden Gefangenen genau. Nicht umsonst hassten ihn arbeitsscheue und unverbesserliche Anstaltsinsassen aus tiefstem Herzen: So sehr er auch die geringste, geleistete Arbeit, noch so wenig gezeigten guten Willen anerkannte, so sehr und so energisch trat er der Oberflächlichkeit, der Faulheit oder gar der Unehrlichkeit gegenüber und pflegte mit drastischen, oft komisch anmutenden Massnahmen renitente Gefangene zur Vernunft zu bringen. Arbeitsscheue Sträflinge, die täglich unter einem andern Vorwand sich vor der Arbeit drückten, indem sie behaupteten, krank zu sein, wurden ruhig zu Bett geschickt, mussten schwitzen und ungesalzenen Haferschleim futtern. Wenn diese Leute beim täglichen Krankenbesuch des Direktors reklamierten, so lächelte dieser fein: «Schwitzen und Haferschleim ist Ihnen sehr zuträglich.» Blieb die Diätkur fruchtlos, so erfolgte die Verbringung nach dem Cachot. Nützte auch dies nicht und bestand Gewissheit, dass Simulation vorlag, so kam der sogenannte Wickel zur Anwendung. Diese sehr seltene, aber ebenso erfolgreiche, als unschädliche und äusserst gefürchtete Prozedur besteht darin, dass der renitente Gefangene in etwa zwanzig Wolldecken eingewickelt und so verschnürt wird, dass nur noch der Kopf des Betreffenden aus den Decken herausschaut. Nach etwa einer halben Stunde fängt der Mann an, furchtbar zu schwitzen, der durch das Schwitzen verursachte Flüssigkeitsverlust des Körpers, verbunden mit dem dadurch eintretenden Durst, durch die Erhitzung des eigenen Leibes, werden die Leute windelweich, rufen zetermordio um Hilfe und versprechen in den meisten Fällen ganz von selbst Besserung, die in der Regel auch anhält.

In Fällen von Hungerstreiks pflegte Direktor Kellerhals ganz ruhig mit den Streikenden zu sprechen und wenn seine Ermahnungen nichts fruchteten, so gab er den lakonischen Befehl: «Einschliessen, das Wasser wegnehmen, bis der Mann wieder isst!» In den weitaus meisten Fällen besiegte der Durst den Willen und die Renitenz dieser Gefangenen, ohne dass künstliche Ernährung oder andere Gewalt angewendet werden musste. Körperliche Züchtigung wird in Witzwil, wenigstens mit Wissen der Direktion, nicht angewandt und selbst gelegentliche Insultationen gröbster Art quittiert Dr. Kellerhals mit beruhigenden Worten oder einem feinen Lächeln. Vater Kellerhals, er wird von den meisten Gefangenen so genannt und vielfach als solcher betrachtet, ist nach sechsundvierzigjähriger Tätigkeit am 1. Juli 1937 von seinem Amte zurückgetreten und es ist sein Sohn, der von Kindheitstagen an, in den letzten fünfzehn Jahren als Direktionsadjunkt, seinen Vater wirken sah und Freud und Leid der Gefangenen kennen lernte, an seinen Platz getreten. Unter seiner Aegide wird die Anstalt genau wie früher geleitet; wie sein Vater, der sich heute in der Hauptsache noch mit den Wohltätigkeitsinstitutionen der Anstalt befasst, ist er ein Frühaufsteher; wie sein Vater, verlangt er von jedem Einzelnen Hergabe der äussersten Arbeitskraft und dennoch arbeitet er mehr, als die andern, wirkt und ordnet auf seinem Büro, trifft seine Dispositionen, ehe die Gefangenen wach sind und macht nächtliche Kontrollgänge, wenn diese die Augen längst geschlossen haben.

(S.275ff.)

 

kommentar

 

Die im Vergleich zu anderen Zwangsarbeits- und Strafanstalten, insbesondere  Bellechasse, eher abwechslungsreiche Verpflegung in Witzwil reichte zwar aus, um die geschilderten Arbeitsleistungen der Häftlingen zu ermöglichen. Eine gewisse Kargheit der Rationen muss aber dennoch bestanden haben, da die Gefangenen, deren Verhalten als korrekt eingestuft wurde, zusätzliche Portionen Käse (oder Schokolade respektive Kautabak) erhielten. Ernst Steck erhielt in Witzwil nach kurzem Einsatz in der Landwirtschaft eine Vorzugsstellung als Gehilfe des Hausmeisters und Werkführers (S.277), die mit zusätzlicher Arbeitszeit verbunden war; dafür erhielt er «als Aequivalent für die längere Arbeitszeit morgens und abends je eine Ration Bratkartoffeln, an Stelle der den Übrigen zukommenden Pellkartoffeln» (S.278). Dass auch ihm diese Aufbesserung der Kost wichtig war, zeugt ebenfalls von der knappen Bemessung der Normalrationen.

Der ehemalige Justizbeamte Werner Steck war nach Bekanntwerden seiner Unterschlagungen nach Argentinien geflohen, dort aber schliesslich gefasst worden. Aus seiner Auslieferungs-Haftzeit im argentinischen Gefängnis Villa Devoto, Buenos Aires, berichtet Ernst Steck: «Homosexualität, zu der jüngere, hübsche Leute nötigenfalls mit Waffengewalt gezwungen werden, ist hier an der Tagesordnung.» (S.207) [1]

Im Gefängnis Thorberg BE, wo er die Untersuchungshaft absass, wurde Ernst Steck in der Schneiderei beschäftigt. Er bemerkt zum dortigen System der symbolischen Auszahlungen, welche die gefangenen Zwangsarbeiter erhielten, dem Pekulium, das kein Lohn ist, sondern ein Anreiz und ein Mittel zur Disziplinierung: «In der Strafanstalt Thorberg wurde den Gefangenen ein sogenanntes Pekulium, eine kleine Entschädigung für die geleistete Arbeit ausgerichtet, beziehungsweise gutgeschrieben, das mit der Zeit steigen und bei schlechtem Verhalten reduziert oder ganz gestrichen werden kann. Die Berechnung dieser Vergütung erfolgt in der Weise, dass für eine Arbeit, beispielsweise die Herstellung einer Hose, ein Preis von zwei bis vier Franken angenommen und von diesem fünf, später sieben oder acht Prozent gutgeschrieben werden. Man sollte nun meinen, dass die Gefangenen auf diese Weise etwas verdienen und für die der Entlassung folgende Zeit vorsorgen können. Es erfolgen aber nicht bloss Gutschriften, sondern es werden den Gefangenen auch alle Bezüge berechnet, und zwar zu Preisen, die oft übersetzt sind. Auf diese Weise macht der Staat ein Geschäft, das heisst, er lässt die Fleissigen für die Faulen bezahlen und braucht dann in der Regel den Gefangenen bei ihrer Entlassung bloss den reglementarisch vorgeschriebenen Minimalbetrag von fünfundzwanzig Franken auszubezahlen.» (S.260)

In Thorberg konnte beispielsweise Zucker, Käse oder Kautabak bezogen werden. Zusätzlich zu Bezügen, die aus dem Pekulium bezahlt wurden, erhielt jeder Häftling, aber nur bei guter Führung, jeden Monat ein Quantum Zucker oder Kautabak. «Allen sich gut aufführenden Gefangenen wurde jeweilen auf Monatsende ein Kilo Zucker oder eine Rolle Kautabak verabfolgt. Diese beiden Artikel, ja selbst Brot, Fleisch, mehr noch Käse, der gelegentlich an Sonntagen gereicht wurde, waren Zahlungs- und Austauschmittel für alle die grossen und kleinen Bedürfnisse des Gefangenenlebens. Für einige Centimeter Kautabak war ein Glas voll Zucker, war eine Ration Käse, waren Bücher erhältlich, und um ein Stück Kautabak im Wert von einigen Rappen haben schon Konversationslexikone ihre Besitzer gewechselt.» (S.253).

Solcher Tauschhandel wird auch aus anderen Haftanstalten geschildert; in diesem Schwarzhandel konnten auch sexuelle Dienstleistungen eingebracht werden.

Dr. Alfred Siegfried, der zahlreiche seiner Mündel nach Bellechasse einwies, war in Kenntnis dieser Vorgänge. Er schrieb nach einem Besuch einiger seiner dortigen Schutzbefohlenen am 18. Februar 1932 an Direktor Camille Grêt: «Als ich mit Rudolf Huser redete, erklärte er mir, dass man durch den Einfluss älterer Insassen in Bellechasse nicht besser werde. Als er allein im Krankenzimmer war, hätten ihm zwei Männer, welche die Küche besorgten, Anträge gemacht. Albert Huser hat auf der Heimreise ähnliche Aussagen gemacht. Rudolf Huser habe keinen Anlass sich zu beklagen, denn er habe sich einem ältern Insassen, wenn ich recht verstand ‹Joba›, welcher wegen Lustmord zu lebenslänglicher Strafe verurteilt sei, hingegeben. Dieser spendiere dafür Geld und Tabak.» Siegfried relativierte die Brisanz dieser Aussagen, die auch bezeugen, dass administrativ eingewiesene Jugendliche in Bellechasse in Kontakt mit Schwerstverbrechern kamen, indem er beifügte, «dass ich die Angaben mit einer gewissen Kritik betrachte.» [2]

Die Kehrichtverwertung in Witzwil ist auch Thema im Artikel «Ein Besuch in der Strafanstalt Witzwil» in der Neuen Zürcher Zeitung vom 24. Mai 1936, hingegen werden dort die Disziplinarstrafen nicht erwähnt.

Das abschliessende Verdikt des ehemaligen Staatsbeamten und späteren Vorzugsgefangenen Ernst Steck über die ihm bekannten Strafanstalten ist negativ: «Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und des Strafvollzuges [...] blieb die Welt stehen, hier machten die Errungenschaften des Jahrhunderts einen Bogen um einen Haufen Unglücklicher, um sie, die allein der schützenden Fürsorge des Staates entbehren, um sie, für die alles zu viel, eine gründliche, tiefschürfende Neuerung zu weit führend und zu umständlich ist. [...]

Der Hunger, die Not, seelisches Leid und alle die Unzulänglichkeiten des menschlichen Lebens treiben den Strafanstalten die Arbeiter zu, doch wird hier der Staat selbst dem Betrüger zu schlau. Immer und immer wieder heisst es arbeiten, nicht Erziehung wird dem Gefallenen gegeben, nein, Arbeit wird von ihm verlangt, zum Teil schwere Arbeit. Wie viele mussten schon eines dummen, unglücklichen Jugendstreiches wegen ihre ganze Manneskraft, ihre Gesundheit, die schönsten Jahre ihres Lebens opfern. Das Entgelt aber für diese Arbeit ist gleich null. Und das in einer Zeit, wo jeder, auch der kleinste Arbeiter, seine Leistung in ihren effektiven Wert umzurechnen weiss, wo er um seine Lebensbedingungen kämpft und ihm die Gesellschaft in ihren sozialen Aufbauprogrammen weitgehendes Verständnis entgegenbringt. Ausgerechnet in diesem Zeitalter unterhält der Staat ein Geschäft, dessen Prosperität auf der Ausnützung der Ärmsten der Armen basiert, und gibt ihnen, den Besserungsbedürftigen, ein Beispiel, das der Moral mit der Faust ins Gesicht schlägt.» (S.284f.)

Die von Ernst Willy Steck (und anderen) kritisierten Überschüsse der bernischen Strafanstalten wandelten sich erst in den 1960er Jahren zu anfänglich noch kleinen Defiziten; dasjenige von Witzwil betrug im Jahr 1965 256'000 Franken.[3]

 

 T. Huonker

 

 

Anmerkungen

 

[1] Auch spätere Berichte schildern diese Stätte des argentinischen Justizvollzugs, insbesondere unter der faschistischen Militärregierung 1976-1983, in düsteren Farben. Vgl. u.a. Gladys Ambort: Wenn die anderen verschwinden sind wir nichts. Vom Ende meiner Jugend in einer Isolationszelle. Hamburg 2011

[2] Siegfried an Gret, 18. Februar 1932. Der Brief ist eigenartigerweise weder im Dossier von Rudolf Huser noch in jenem von Albert Huser, sondern in dem von Franz Schwarz eingeordnet (BArch, erstes Dossier Franz Schwarz, Nr.942, im Bestand J.2.187 1988/1976

[3] Fussnote: Stellungnahme der bernischen Polizeidirektion, zitiert nach Neue Zürcher Zeitung, 14.09.1966

 

 

Angaben zur Quelle

 

 Aus: Ernst Willy Steck: Wer einmal hinter Gittern war, Bern 1938