In den Anstalten von Bellechasse – einem der Orte, in dem viele Menschen administrativ versorgt wurden – waren sowohl die Menge als auch der Inhalt der Briefpost der strafrechtlich und administrativ versorgten Personen strikt geregelt.

Bis in die 1950er Jahre schrieb das Anstaltsreglement vor, dass jede und jeder Versorgte das Recht auf den Versand eines einzigen Briefs pro Monat und auf den Erhalt eines einzigen Päckchens habe.
Dies aber unter der Bedingung, dass sein/ihr Verhalten «keinerlei Anlass zu Beschwerde gebe». Als eine weitere Bedingung hielt das Reglement fest, dass «Schriftwechsel, die eine Beurteilung oder Beobachtungen über die Einrichtung, ihre Angestellten oder Reglemente enthalten», weder versendet noch ausgestellt würden. Aus diesem Grund wurde jeder Brief von der Direktion durchgelesen und jedes Schriftstück, das in ihren Augen den Regeln widersprach, konfisziert und in den Personendossiers aufbewahrt.

Diese Zensurmassnahmen wurden von den strafrechtlich und administrativ versorgten Personen häufig als Zwang empfunden. Sie wendeten mehrere Strategien an, um diese Bestimmungen zu umgehen. Ein häufiges Mittel stellte dabei der «Briefschmuggel» dar, mit dem Briefe an der Anstaltsdirektion vorbei an Besucherinnen und Besucher sowie Angestellte übergeben wurde. Solche Schmuggelbriefe wurden häufig auf irgendeiner Unterlage verfasst – beispielsweise auf Schokoladenpapier oder Packpapier. Diese Schmuggelbriefe sind in den Personendossiers des Archivfonds von Bellechasse leicht erkennbar, da sie so klein wie möglich zusammengefaltet wurden, etwa mit der Absicht, sie im Futterstoff der Kleider zu verbergen.

 

FOrschungsfragen

Diese in den Personendossiers gefundenen Briefe stellen für die Forschung eine einzigartige und wertvolle Quelle dar: Einerseits ermöglichen sie einen Zugang zur Perspektive der strafrechtlich und administrativ versorgten Personen auf ihre Lebensbedingungen in der Einrichtung. Andererseits geben sie Aufschluss über die Strategien, welche die Insassinnen und Insassen entwickelten, um mit ihren Angehörigen ausserhalb der Anstalt zu kommunizieren.

Wie oben erwähnt, wurden solche «Schmuggelbriefe» mit der Absicht verfasst, die Kontrolle der Direktion zu umgehen. Dies war insbesondere dann nötig, wenn die strafrechtlich und administrativ versorgten Personen die Bedingungen in der Anstalt als inakzeptabel bemängelten, was ihnen durch das Anstaltsreglement ja verboten war.

In dem Brief von 1927 an seine Tochter beklagte der Verfasser zum Beispiel den Nahrungs- und Kleidermangel und die sehr harten Arbeitsbedingungen, denen die strafrechtlich und administrativ versorgten Personen unterworfen waren. Er bat seine Tochter zudem um Esswaren, die sie in den nächsten Päckchen verstecken sollte, und warnte sie gleichzeitig vor den Sanktionen, mit denen er im Falle eines Auffliegens rechnen müsse: «Léonie, ich schreibe dir diese Zeilen heimlich, sprich nicht davon in deinen Briefen, sonst muss ich ins Verliess [cachot]. Mach einfach 5 oder 6 Punkte nach dem Datum in deinem Brief. Dann weiss ich, dass du ihn erhalten hast.»

 

umgang mit der quelle

Dieser «Schmuggelbrief», der in einem Personendossier eines in Bellechasse administrativ versorgten Menschen gefunden wurde, war wahrscheinlich von der Direktion abgefangen und im Dossier seines Verfassers aufbewahrt worden. Seine Adressatin hat ihn bestimmt nie gelesen.

Isoliert betrachtet, nimmt diese Quelle einen spezifischen Blickwinkel auf die Versorgung ein. Mit einem Korpus von Briefen dieses Typs wird es möglich, die Lebensweise der Versorgten dieser Einrichtung und ihre Widerstandsstrategien zu rekonstruieren. Wenn solche Briefe im Zusammenhang mit dem gesamten Dossier der strafrechtlich oder administrativ versorgten Person (Internierungsentscheide, Briefwechsel der Behörden) betrachtet werden, können sie ausserdem die Perspektive der Verfasserin oder des Verfassers über ihre/seine Situation und über die Entscheide, die sie/ihn betreffen, aufzeigen. Diese persönliche Ansicht ist in den Verfahrensakten der Behörden selten enthalten.

Andererseits kann mit diesen Briefen kein abschliessendes Bild über die Erfahrungen während einer Versorgung in Bellechasse gezeichnet werden, denn leider beinhalten zahlreiche Personendossiers keine solchen Briefe.

 

L. Odier, A.-F. Praz/Übersetzung UEK

 

Angaben zur Quelle

«Schmuggelbrief» einer in Bellechasse administrativ versorgten Person, 1927.

Signatur: Staatsarchiv Freiburg (StAF/AEF): Bestand Bellechasse, Dossier A 10647.

 

Bemerkungen

Um die Identität der von diesem Entscheid betroffenen Person zu schützen, wurden gewisse persönliche Daten für die Veröffentlichung geschwärzt. Der Name «Léonie» ist ein fiktiver Name.

 BemerkungenUm die Identität der von diesem Entscheid betroffenen Person zu schützen, wurden gewisse persönliche Daten für die Veröffentlichung geschwärzt.