Das Gesetz vom 20. Mai 1919 «über die Wirtshäuser, die Herstellung und den Verkauf von alkoholischen Getränken und die Bekämpfung des Alkoholmissbrauches» ermöglichte im Kanton Freiburg die administrative Versorgung von vermeintlichen Alkoholikerinnen und Alkoholikern in Arbeitsanstalten und in Trinkerheilanstalten.

Inhalt

Das Gesetz unterschied zwischen zwei Kategorien von Alkoholkranken. Einerseits definierte es die Kategorie der «Trinker», die öffentlichen «Skandal» verursachten oder als «gefährlich» erachtet wurden, und andererseits die Kategorie der «Gewohnheitstrinker». Für diese zwei Kategorien sah das Gesetz unterschiedliche Massnahmen vor. Über die im Gesetz genannten «Trinker» sollte zunächst ein «Wirtshausverbot» ausgesprochen werden. Verstiessen sie gegen dieses Verbot und besuchten trotzdem ein Wirtshaus oder erachtete der zuständige Oberamtmann (Begriff für den Regierungsstatthalter im Kanton Freiburg) ein Wirtshausverbot als nicht geeignet, konnte dieser die betroffenen Personen für eine Dauer von einem bis drei Jahren in eine Arbeitsanstalt einweisen. «Gewohnheitstrinker», die – so die Quelle – «ihre Gesundheit oder sozialen Pflichten sowie ihre eigene und die Situation ihrer Familie» gefährdeten, konnten gemäss dem Gesetz für eine Dauer von sechs Monaten bis zwei Jahren in einer Trinkerheilanstalt interniert werden. Das Gesetz besagt zudem, dass eine Entmündigung nach Zivilgesetzbuch (ZGB) und eine Versetzung in eine Arbeitsanstalt in solchen Fällen als zusätzliche Massnahmen ergriffen werden konnten.

Die offenen Formulierungen in diesem Gesetzestext erlaubten es den zuständigen Behörden, d.h. den Oberamtmännern, das Gesetz mit einem grossen Ermessensspielraum anzuwenden. Denn ab wann war beispielsweise ein Verhalten als «Skandal» zu bewerten oder was machte eine «Gefährdung der sozialen Pflichten» aus? Diese und ähnliche Fragen beantworteten die Behörden nach eigenem Ermessen. Es war deshalb schwer abzusehen, welche im Gesetz vorgesehene Massnahme eine Behörde ergreifen und welche Konsequenzen dies für die betroffenen Menschen haben würde.

Gesetze, die eine administrative Versorgung von Alkoholikerinnen und Alkoholikern zuliessen, existierten nicht nur im Kanton Freiburg, sondern in den meisten Kantonen.

 

Umgang mit der Quelle

Durch die Untersuchung von Gesetzen kann unter anderem ermittelt werden, welchen Handlungsspielraum die Behörden hatten. Auch geht aus diesen Quellen hervor, welche Personengruppen wann und unter welchen Voraussetzungen administrativ versorgt werden konnten. Ausserdem wird ersichtlich, wie die Versorgungsverfahren rechtlich organisiert waren: Wer konnte einen Versorgungsantrag stellen? Wer musste für die Kosten aufkommen (beispielsweise die Heimatgemeinde oder der Kanton)? War ein ärztliches Gutachten vorgeschrieben? Wie lange dauerte die Rekursfrist, sofern es eine Rekursmöglichkeit gab? Konnte die Behörde andere Massnahmen als eine Anstaltsversorgung ergreifen?

Die Gesetzestexte sagen allerdings nichts darüber aus, welche der Gesetzesartikel wann und wie häufig angewendet wurden. Auch ob sich die Behörden immer an die gesetzlichen Vorgaben hielten, kann man durch ihre Analyse nicht herausfinden. Um Fragen über die tatsächliche Anwendung von Versorgungsgesetzen beantworten zu können, müssen als weitere Quellen zum Beispiel Einweisungsentscheide und die von den Behörden angelegten Akten über die betroffenen Personen untersucht werden.

 

E. Neuhaus

 

Angaben zur Quelle

Loi du 20 mai 1919 sur les auberges, la fabrication et la vente de boissons alcooliques et la répression de l’alcoolisme.

Signatur: Staatsarchiv Freiburg (StAF/AEF): Le Grand Conseil du Canton de Fribourg, Bulletins des lois, 1919, S. 107–137.

 

Bemerkungen

  • Verbindung zu anderen Quellen:
    Alkoholismus wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ein gesundheitliches und soziales «Übel» erachtet. Vor diesem Hintergrund legten mehrere Kantone gesetzliche Regelungen für den Umgang mit Alkohol fest. Dazu gehörten auch repressive Massnahmen gegen Menschen, die der Gesetzgeber oft als «Säufer» und «Gewohnheitstrinker» bezeichnete. Welche Rolle die Ansichten aus der Wissenschaft für die Begründung dieser Gesetze spielten, erklärt L. Maugué in seinem Text über Auguste Forel.
    Das Freiburger Gesetz «über die Wirtshäuser, die Herstellung und den Verkauf von alkoholischen Getränken und die Bekämpfung des Alkoholmissbrauches» regelte auch die Bedingungen, unter denen eine internierte Person aus einer solchen Anstalt entlassen werden konnte. Wie eine solche Entlassung beantragt wurde, zeigt diese Quelle von M. Häsler Kristmann.
  • Zweisprachigkeit:
    Da es sich bei Freiburg um einen zweisprachigen Kanton handelt, werden die kantonalen Gesetze sowohl auf Französisch wie auch auf Deutsch publiziert. Massgebend war stets die französischsprachige Ausgabe, von der aus der Text jeweils ins Deutsche übersetzt wird. Übersetzungsfehler konnten deshalb mitunter gravierende Folgen haben. Ein solcher unterlief Jahrzehnte später beim «Loi du 7 mai 1965 sur la lutte contre l’alcoolisme». Im deutschsprachigen Gesetzestext fehlte die Höchstdauer für administrative Versorgungen, die in der französischsprachigen Version auf zwei Jahre festgesetzt war. Der Fehler blieb fünf Jahre lang unbemerkt, was dazu führte, dass Personen – gesetzeswidrig – für unbestimmte Zeit in eine Anstalt eingewiesen wurden (vgl. hierzu AEF, DSPa 2697, «Mitteilung an die Oberamtmänner des Sensebezirks und des Seebezirks, 17. September 1970»).