Als Minderjährige war Daniella Schmidt von 1960–1964 interniert. Bei Erreichen der Volljährigkeit wurde sie aus der fürsorgerischen Zwangsmassnahme entlassen. Am 31. Oktober 1964 stimmte sie zu, unter eine «freiwillige Vormundschaft» gestellt zu werden. 2017 erzählte sie im Interview mit der UEK, dass sie von der Vormundschaftsdelegation getäuscht worden war und sich der tatsächlichen Konsequenzen ihrer Unterschrift nicht bewusst war.

Das Archivdokument vom 31. Oktober 1964 hält fest, dass Daniella Schmidt (geborene Torri) am Ende ihrer administrativen Versorgung im Kantonsspital für Neuropsychiatrie (Ospedale neuropsichiatrico cantonale, ONC) von Mendrisio und bei Erreichen der Volljährigkeit die Vormundschaftsdelegation (Delegazione tutoria, DT) der Gemeinde Sementina darum ersuchte, unter «freiwillige Vormundschaft» gestellt zu werden. Das von der UEK im Jahr 2017 mit Frau Schmidt durchgeführte Interview zeigt die Erlebnisse aus einer anderen Perspektive: Die Gemeindebehörde täuschte die junge Frau, die ihre schriftliche Zustimmung im Unwissen über die dramatischen Folgen unterschrieb.

 

Inhalt

Aus einem ausserehelichen Verhältnis hervorgegangen, wurde Daniella Schmidt bei ihrer Geburt am 13. Juni 1944 von ihren Eltern verlassen und der Vormundschaft für «uneheliche Unmündige» unterstellt. Nach verschiedenen Fremdplatzierungen war sie von 1960–1964 administrativ im ONC interniert. Zwei Tage nach Erreichen der Volljährigkeit, als die vormundschaftliche Massnahme für «uneheliche Unmündige» endete, wurde sie entlassen. Die untersuchte Quelle gibt keinen Anlass zu Zweifeln: Im Brief vom 31. Oktober 1964 ersucht die eben erst volljährig gewordene Daniella Schmidt mit ihrer eigenen Unterschrift die DT von Sementina eindeutig, der «freiwilligen Vormundschaft» für Volljährige unterstellt zu werden.

 

Kontext

Aus anderen Dokumenten der DT geht hervor, dass in den Monaten vorher zwischen der DT und der Aufsichtsbehörde über das Vormundschaftswesen (Autorità di vigilanza sulle tutele, AVT) ein reger telefonischer und schriftlicher Austausch stattfand: Die Behörden beschlossen ausdrücklich, dass die junge Frau nicht vollkommen frei sein darf, auch wenn sie vom ONC entlassen und nunmehr volljährig ist. Sie kamen überein, dass sie am einfachsten unter ihrer Zuständigkeit behalten werden kann, wenn sie dazu gebracht wird, ein Gesuch um eine freiwillige Vormundschaft zu unterzeichnen. Die Vereinbarung zwischen der Gemeinde- und der Kantonsbehörde lässt Zweifel daran aufkommen, dass die junge Frau das Gesuch freiwillig unterschrieben hat.

 

Das Interview: Die Oral-History-Quelle eröffnet eine neue Perspektive

Im Interview des Jahres 2017 erklärte Frau Schmidt in Bezug auf das unterschriebene Dokument: «Klar habe ich es gelesen, aber ich habe kein Wort verstanden.» Wenn sie die Konsequenzen vollumfänglich verstanden hätte, «hätte ich nie so etwas unterschrieben!», sagte sie. In ihren Augen war sie getäuscht worden und sie schalt die DT sowie die AVT: «Ja, ihr habt mich aufs Kreuz gelegt. Aber richtig. Ihr seid grosse Betrüger und Schwindler!» Und sie bekräftigte: «Für mich ist das Betrug.»

 

Bemerkungen zur Methode

Eines der Ziele der UEK ist es, die Perspektive der versorgten Personen zu rekonstruieren. Die Akten aus den Archiven weisen einen wesentlichen Mangel auf, denn in den meisten Fällen drücken sie ausschliesslich die Sicht der Verantwortlichen der administrativen Versorgung aus. Um diesen Mangel zu beheben, müssen die Dokumente kritisch geprüft werden, indem alle verfügbaren Akten sorgfältig untersucht werden. Auch der historische Kontext, in dem sie entstanden sind, ist genau zu beachten. Zum Teil ist dies jedoch schwierig, unmöglich oder ungenügend. Vor diesem Hintergrund spielen die Zeugnisse der von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffenen Personen eine entscheidende Rolle. Die mit Frau Schmidt geführten Interviews sind Quellen der mündlich überlieferten Geschichte (oral history) und für den historisch-soziologischen Ansatz der UEK besonders relevant. Sie ermöglichen es, das untersuchte Archivdokument in den Kontext zu stellen und eine andere, ergänzende Perspektive einzunehmen. Für die wissenschaftliche Forschung ist es sehr bereichernd, wenn gleichzeitig schriftliche und mündliche Quellen vorliegen, auch wenn sie aus verschiedenen Perioden stammen. Bei der Analyse dieser unterschiedlichen Quellen lohnt es sich, mehrere Forschungsfragen aufzustellen und verschiedene Untersuchungsmethoden miteinander zu verbinden.

 

M. Nardone/Übersetzung

 

Bemerkungen

Die Biografie von Daniella Schmidt wird von M. Nardone in Band 1 Gesichter der administrativen Versorgung der UEK (S. 190–199) erzählt.

 

Angaben zu den Quellen

Archivio del Comune di Sementina: Incarto personale della Delegazione Tutoria, Daniela Torri, 1964.

Auszug aus Interview-Transkript UEK 2017, D. S., S. 19–20.