Frau T. erzählt im Interview mit der UEK, wie sie sich beim Jugendanwalt gegen die sexuelle Zudringlichkeit ihres Hausherrn und gegen ihre ökonomische Ausbeutung an ihrer Arbeitsplatzierung wehrte. In der Folge wurde sie administrativ versorgt.

Inhalt der Quelle

Die hier vorgestellte Passage ist in der Biographie der Interviewpartnerin der Moment, der ihrer administrativen Versorgung unmittelbar vorausgeht. Zuvor beschreibt sie im Interview, wie sie bereits in der Schule des Diebstahls bezichtigt worden war. Als uneheliches Kind einer armen Familie wurde sie immer wieder mit ihrer Mutter auf negative Art und Weise gleichgesetzt und war wiederholt anzüglichen bzw. sexualisierten Zuschreibungen ausgesetzt. Sie sagt, dass sie an den Arbeitsstellen in privaten Haushalten, die ihr nach der obligatorischen Schule von den Behörden zugewiesen wurden, nie wirklich Glück hatte und dass ihr immer schon ein schlechter Ruf vorauseilte.

 

Zugang zur Quelle

Im Vergleich mit anderen Interviews, die die UEK mit von administrativen Versorgungen betroffenen Personen geführt hat, zeigt sich, dass dies eine «typische» Vorgeschichte einer administrativen Versorgung im Jugend- und Erwachsenenalter ist: viele Interviewpartnerinnen und Interviewpartner wurden als Kinder oder Jugendliche stigmatisiert, etwa, weil sie ausserehelich geboren waren oder weil ihre Eltern arm oder «fremd» waren. Im Verlauf der Schulzeit konnte sich diese Stigmatisierung zunehmend verfestigen. Dabei reagierten Lehrerinnen und Lehrer, Pfarrer, Nachbarinnen und Nachbarn, aber auch Eltern oder Polizisten auf kleine Ereignisse oft so, dass diese als «Beweise» für das den Kindern vorgeworfene Stigma interpretiert wurden. Dadurch gerieten die Kinder und ihre Familien zunehmend in den Fokus der Behörden; fürsorgerische Interventionen bereits im Kindesalter sind in diesen biographischen Verläufen häufig. Auch Frau T. wurde aufgrund der Diebstahlsverdächtigungen mit elf Jahren in ein Kinderheim eingewiesen. «Schuld sein zu müssen», wie Frau T. im Interview einmal sagt, gehörte zur Stigmatisierung dieser Kinder und Jugendlichen und machte sie besonders verletzbar für Beschuldigungen und Übergriffe durch Erwachsene in ihrem sozialen Umfeld.

Diese Interviewpassage zeigt eine zweite «typische» Erfahrung in den Biographien von Betroffenen: dass sie von Seiten der Behörden nicht unterstützt wurden, wenn sie sich gegen solche Beschuldigungen und Übergriffe zu wehren versuchten. Frau T. wurde vom Jugendanwalt nicht einmal angehört, wie sie im Zitat sagt. Stattdessen wurde sie diszipliniert, indem der Jugendanwalt sie in einer Psychiatrie und später in einem Nacherziehungsheim für «schwer erziehbare, sittlich gefährdete schulentlassene Töchter» administrativ versorgen liess.

 

Analyse

Stigmatisierte Jugendliche unter Vormundschaft und/oder in Fremd- oder Arbeitsplatzierungen konnten besonders leicht administrativ in eine Anstalt interniert werden, wenn sie sich gegen sexuelle Zudringlichkeit, sexuelle Gewalt und/oder ökonomische Ausbeutung und Zwang wehrten. Zugespitzt formuliert lässt sich sagen, dass Gewalt gegen platzierte Jugendliche mit einer administrativen Versorgung zu Ungunsten der Opfer «gelöst» wurde. Der Jugendanwalt befragte nicht die junge Frau zu den von ihr erhobenen Vorwürfen, vielmehr scheinen die einweisende Behörde (der Jugendanwalt) und die Arbeitgeber (darunter der Täter) das «Problem» unter sich ausgemacht zu haben: «Ich bin nicht dabei gewesen, mich hat niemand gefragt», sagt Frau T. im Interview. Die administrative Versorgung des Opfers rechtfertigte nachträglich gewissermassen die zugefügte Gewalt, indem das Opfer – und nicht etwa der Täter – gemassregelt wurde. Diese Erfahrung ist «typisch» für Betroffene administrativer Versorgungen. Strafverfolgungen oder gar Verurteilungen von Tätern werden in den Interviews nur in sehr seltenen Fällen beschrieben und nur wenn sie grosse Unterstützung «glaubwürdiger» Dritter erhielten.

 

Besonderheiten der Quelle

Diese Quellenbeschreibung ist ein Beispiel aus der Analyse von 58 narrativen Interviews, die nach Forschungsmethoden der «qualitativen Sozialforschung» und «oral history» ausgewertet wurden. Genaueres zum Umgang mit diesen Quellen wird im Text von A. Schwendener ausgeführt.

 

R. Ammann

 

Angaben zur Quelle

Ausschnitt aus Interview-Transkript UEK, M.T., S. 4-5.