Am 24. Juni 1938 kontaktierte ein Anwalt das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Freiburg, um Auskunft über eine in Bellechasse versorgte Frau zu erhalten: Einer seiner Kunden wollte sie heiraten. In literarischer Prosa setzt er sich für diese Ehe ein und zeigt sich überrascht, dass eine Frau in einer solchen Anstalt sein kann, ohne eine Straftat begangen zu haben.

Kontext der Quelle

Die Entlassung von in Bellechasse versorgten Personen erfolgte oft über einen Antrag auf bedingte Entlassung. Die von der Gefängnisleitung und den für den Versorgungsentscheid zuständigen Behörden beurteilten Anträge – die in Form und Inhalt unterschiedlich waren – enthielten recht einheitliche Argumente. Die von Freiburger Internierten zuhanden des Direktors von Bellechasse verfassten Anträge um bedingte Entlassung aus den 1920er- und 1970er-Jahren lassen diese argumentativen Strategien sowie die normativen Systeme, durch die eine bedingte Entlassung gewährt wurde, erkennen. So begünstigten in den 1920er-Jahren die Arbeitsleistung während der Internierung und das Einhalten der Anstaltsregeln eine bedingte Entlassung, während in den 1970er-Jahren eher die Aussichten auf Beschäftigung bzw. Familienstabilität bei der Entlassung das Hauptkriterium waren (siehe Band 8 der UEK). Diese formellen Anträge wurden alle durch den Direktor von Bellechasse geprüft, dessen erste Einschätzung für den Entscheid über die bedingte Entlassung massgebend war. Während die Mehrheit der Versorgten diesem Argumentationsmuster und dem offiziellen Weg zur bedingten Entlassung folgten, nutzten andere alternative Wege. So konnten Frauen über ein Eheversprechen eine Entlassung bewirken (siehe Band 4 der UEK).

 

Quellenanalyse

Dieser Quellentyp ist in den Akten von Bellechasse zu finden. Aus ihm geht der Standpunkt zur administrativen Versorgung eines damaligen Zeugen hervor, der nicht direkt von der Versorgung betroffen war (er wurde weder versorgt, noch war er am Entscheid oder dessen Umsetzung beteiligt). Er gibt Aufschluss darüber, was die Bürger über diese Praktiken wussten und wie sie sie beurteilten. Als solche bietet sie Zugang zu wichtigen Informationen, die zum Verständnis beitragen, inwiefern Zeitzeugen diesen Praktiken und deren Umsetzung beipflichteten.

Im vorliegenden Fall zeigt sich ein im Kanton Waadt praktizierender Anwalt in einem Brief überrascht, dass eine Frau ins Gefängnis kommen kann, ohne eine Straftat begangen zu haben. Damit legt der Brief nahe, dass diese Praktiken bei damaligen Anwälten nicht unbedingt bekannt waren und Unverständnis oder gar Empörung hervorrufen konnten.

 

Forschungsfragen

Der Brief wurde in den persönlichen Akten einer betroffenen Frau in Bellechasse gefunden. Er wurde wahrscheinlich vom Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Freiburg an die Direktion von Bellechasse weitergeleitet. Im Brief wird ein Heiratsantrag und gleichzeitig ein Antrag auf Entlassung gestellt. Es wird suggeriert, dass die Ehe für Frauen eine Alternative zur Versorgung sein kann. Im Vergleich mit Anträgen dieser Art in anderen Akten könnte der Brief zum Verständnis beitragen, inwieweit, in welcher Zeit und für welche versorgte Personen diese Praxis verbreitet war.

Im Verhältnis zur gesamten Akte der betroffenen Frau, zeugt ein solches Schreiben auch von den verschiedenen Akteuren, die an der Behandlung von Entlassungsanträgen beteiligt waren, sowie von den Gründen, die sie veranlasst haben, den Austritt aus der Anstalt zu genehmigen oder abzulehnen.

 

L. Odier/Übersetzung

 

Angaben zur Quelle

Schreiben eines Anwalts, der dem Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Freiburg den Antrag eines seiner Kunden auf Heirat mit einer in Bellechasse versorgten Frau übermittelt hat, 1938.

Signatur: Staatsarchiv Freiburg (StAF/AEF): Fonds Bellechasse, dossier A 2870.

 

Bemerkungen

Zum Schutz der Identität der betroffenen Person und ihres Umfelds wurden einige Personendaten unkenntlich gemacht.